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Euphorisierende Wut

Ein weiterer Text aus Lützerath.

Der erste Abschnitt mag schwer verdaulich sein, doch ist es nötig ihn zu schlucken, wenn Mensch den zweiten Teil wirklich verstehen möchte.

Ich denke es geht auch daraus hervor, wieso ich nun von Mensch spreche und wie sich mein Blick in diesem Dorf verändert. Sich weitet. 

Weil es von Menschlichkeit und Hoffnung lebt und Zuversicht verspricht.

Ein Dorf, das mich zum reimen einlädt.


In diesem Text versuche ich ein Dorf in Worte zu fassen, das nicht zu fassen ist. 


Weil ich mir nicht hätte vorstellen können, dass so ein Ort existieren kann. 

Wieder sitze ich am Abgrund.


Der Staub weht mir in die Augen, doch schließen kann ich sie nicht. Einmal hineingesehen, fällt es schwer, den Blick abzuwenden – mir zumindest.


Fast wie ein Unfall möchte ich meinen. Und doch ist es keiner. 


Es ist der Aufbruch in die neue Welt. Und der Untergang der Zukunft.


1,5 Grad, stehen und fallen mit Lützerath.


Es mag fundamentalistisch klingen, doch zahllose Studien beweisen, dass es so ist. Jede Tonne Kohle, jede Kilowattstunde fossiler Brennstoffe, treiben uns näher an eine 2,6 Grad wärmere Welt.


2,6 Grad – der Weg auf dem wir uns befinden, in dieser Mensch gemachten Krise. Ein Weg der uns zu vielem führt, nur nicht in eine lebenswertere Welt. Zu Grönland ohne Eis und Alpen ohne Gletscher, zu dem Versiegen atlantischer Meeresströmungen und zu einer Ostsee ohne Strände. In dieser Welt stehen Natur-Katastrophen auf der Tagesordnung. Einfach weil die Grundvoraussetzungen viel näher an dem sind, was wir eine Katastrophe nennen. 


Von den sozialen Folgen auf globaler Ebene und ihren Konsequenzen für uns alle ganz zu schweigen. 


Das schlimmste: 


Es tritt ein, selbst wenn alle weltweit geleisteten Klimaschutz-Versprechen eingehalten werden.


Wir denken, wir brauchen mehr als das. 


Und dafür steht Lützi.


Dafür lebt Lützi.


Und dafür leben und kämpfen all die Menschen, die hier tagtäglich am Abgrund stehen. Hineinsehen. Das Knarzen, Brummen und Quietschen in sich aufnehmen. Es fügt sich zu einem unaufhörlich Rauschen.


Ein Ort ohne Ruhe. 


Ein Ort der Wut.


Ein Loch in dem es leicht fällt zu versinken. Nicht bloß in irgendeiner Wut. In euphorisierender Wut.


Einer Wut, aus der die Energie erwächst einen Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Einen Traum von einem anderen Ort – einem Ort an dem jeder Mensch sein darf.


Lützerath. 


Eine Welt an der sich jeder Sonnenaufgang wie ein Geschenk anfühlt, weil die Dächer auf denen wir sitzen, doch längst hätten verschwunden sein sollen – in einem Loch versunken. Ihr Schicksal aufgeschoben, ists doch gelogen, von RWE und Grünen abgemacht wird das Land abgeflacht, fühlts sich an wie ein Messerstich, für all die Menschen, für die hier ihr zu Hause ist. 


Trotzdem ist mehr Hoffnung da, als letztes mal. Einfach, weil wieder Zeit gewonnen wurde. Die Räumung erst nächstes Jahr anstehen soll. Und wer weiß. Vielleicht nie… 


Die Hoffnung, dass diese Welt doch bleiben darf. 


Eine Welt, in der Menschen aller Hintergründe zusammenkommen und im Moment versinken. Nicht sorglos aber frei. In der sich alte Freunde wiederfinden und neue Freundschaften entstehen. In der offen und unbeschwert darüber gesprochen werden kann, was Menschen stört. Und zusammen nach Lösungen gesucht wird. Verhalten reflektiert, und angepasst. Nicht exkludierend, sondern bedacht. 

Wo gemeinsam gegen das einsam sein gekämpft wird, wenn Mensch zum Lagerfeuer einlädt. 

Wo aus altem neues entsteht, wenn ganz beiläufig ein Weihnachtslied – in neuer Pracht geschmückt – den Untergang von RWE verspricht. Alte Melodien in neuem Schein – Mensch lacht verzückt.

 

Wo wildfremde Menschen dich fragen, ob es dir gut geht. Und kein „gut“, „muss ja“ oder „bestens“ als Antwort erwarten. Wo du sagen darfst, dass für dich wirklich alles scheiße ist, du grad gern alleine bist, weil das hier besser geht, als zu Hause. Wo es richtig ist sich Schluff, Flocke – Elf und Sonne zu nennen, weil es sich richtig anfühlt – mit Identitäten zu spielen und kindlich über sich zu lernen. 


Wo Menschen, die unter die Räder gekommen sind, zu Hause sein dürfen. 

Wo eine gespendete Fritöse, die Herzen schmelzen lässt. Eine Portion Pommes – auf das ihr kurz den Schmerz der Welt vergesst. 

Ein Ort, wo Kinderblicke an jeder Kleinigkeit hängen bleiben, sie mit offenem Mund staunend verweilen oder freudestrahlend rennen und schreien – die kann so schlecht nicht sein. 


Tausend Fragen bleiben, grad in Kindsköpfen ist's doch fein. 


Die Herbstsonne strahlt durch die ausgedünnten und doch noch grünen Wipfel. 


Ein gackerndes Lachen schallt durchs Dorf. 


Wir stehen tanzend an der Kante. Wo die Schwärze der Nacht ins Nichts der Grube fällt – bis ein Scheinwerfer der Sekus die Nacht erhellt. Verzerrte Gesichter, ein freudenschrei, die Sekus tanzen – Momente der Menschlichkeit. 

Kleine Siege für Lützi. Die Ablöse. Dann ists vorbei. 


Ein Dorf, in dem jeder Schritt illegal ist, weil du nur auf der Mahnwache gemeldet bist. Tausend Fahnen wehen – keine Nationalflagge zu sehen. Und doch versammeln sich über 2000 Menschen hier. Sie stiften Hoffnung, schöpfen Wut und finden Mut, die es zu verbreiten gilt. 

Wie die Geschichte, von dem Dorf, das bleiben will. 


Schwarz roter Rauch steigt aus der Masse auf.

 

Hunderte Kraniche fliegen trompetend über uns hinweg. Ihr Aufbruch bezeichnend. 


Spät und doch unverzichtbar. 


Es ist Mitte November. Wie Ying und Yang fügen sich Garzweiler II und Lützi aneinander.


Ohne die Grube keine Wut, ohne die Wut kein Lützerath. Kein Kampf für eins-komma-fünf-grad.


Ich wünsche mir nicht, die Grube wäre nie gewesen. 


Wo wären wir ohne sie? – die Kohle.


Wo wären wir ohne ihn? – unseren Kampf.


Dem Kampf der letzten Generation, die Garten Eden kennenlernen durfte.


Dem Kampf für Mut und Zuversicht, diese Welt – den Garten – erhalten zu dürfen. 


Dafür muss sie vergehen – Die Kohle. Die Bagger stillstehen. Und Ruhe einkehren.


Das wünsche ich mir. 


Damit wir weiter Lachen, Tanzen, Weinen und Schreiben können – in einer heilenden Welt, die uns lehrt zu vergeben.




Alle Infos über Lützi, hier


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Kommentare: 2
  • #1

    Leo (Montag, 14 November 2022 16:52)

    Ich war leider nur wenige Tage in Lützi, aber Du fasst das Gefühl, an der Abbruchkante zu stehen, so perfekt in Worte. Vielen Dank für Deinen Text, es gibt mir Hoffnung, dass wir selbst im Kohlestaub der Orte fressenden Bagger noch Hoffnung leuchten sehen.

  • #2

    Wi (Samstag, 07 Januar 2023 19:16)

    Wunderschön geschrieben.