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Der Ausflug

Ein nostalgischer Einstieg in mein nächstes Abenteuer liegt hinter mir und die Ostsee-Umrundung vor mir. Während ich mit überstrapazierter Archilles Sehne am Strand von Usedom liege, bin ich langsam in der Lage zu begreifen, was ich mir wieder vorgenommen habe und wo ich eigentlich bin. - zusammengefasst: genau da, wo ich sein will.


Die letzten Wochen schwirren mir 1000 Dinge durch den Kopf. Was brauche ich noch alles für meinen Van? Schaffe ich den Ausbau vor der Reise? Wie werden meine Job-Projekte weiterlaufen? Was muss ich vorbereiten? Wo bekomme ich Sticker für Juliusreist her? Wie erstellt man eine ver****te cutcontour? Wäre ein Sponsor nicht cool? Und wieso bin ich so unfassbar verliebt in diesen Frühling?


Tausend Fragen, die mich praktisch bis zum Moment des Aufbruchs beschäftigen. So sehr, dass die praktische Reisevorbereitung völlig in den Hintergrund gerät. 


Ein Glück habe ich schon fast alles was ich brauche und auch was ich noch nicht habe, kommt größtenteils rechtzeitig an. Eine hoffentlich wirklich wasserdichte Regenjacke zum Beispiel. Bären-Abwehrspray für meine Zeit in Nord-Skandinavien. Und ein ergodynamischer Lenker für Helge. Nur ein neues Tagebuch habe ich vergessen zu organisieren.


Naja… es geht auch so.


Plötzlich ist es so weit. Donnerstag der 25. Mai - Helge ist bepackt und auch Mama sitzt startklar im Sattel ihres gelben Blitzes. 


Wir rollen vom Parkplatz des Familien-Restaurants - dieses Mal starte ich nicht in Hamburg. Habe ich nicht irgendwas vergessen? Handy ist dabei, Ausweis auch… Campingkochergas, Regenhose, Taschenmesser eins, zwei und drei, Feuerstahl, Klopapier, eine Socke und eine Boxershorts… müsste passen - glaube ich.


Kastorf zieht an uns vorbei. Wie tausende Male zuvor, fahre ich durch das Dorf, in dem ich groß geworden bin. Das Haus von Frau Schubkarre, meine alte Bushaltestelle, das alte Neubaugebiet und das neue-neue Neubaugebiet. Und irgendwie fühlt sich alles genau so an wie immer.

Während ich Mama hinterher die L92 hinabrolle, kann ich nicht anders als an unsere erste gemeinsame Radtour zu denken. Zumindest die erste, an die ich mich erinnern kann.


Ich müsste so 6 gewesen sein, als Mama fragt, ob ich nicht eine Radtour mit ihr machen will - nach Lübeck. „Nach Lübeck?!“, Frage ich. Da fährt man doch mit dem Auto hin! Viel zu weit zum Fahrrad fahren. Aber Mama ist sich sicher, dass Menschen so weit Rad fahren können, also willige ich skeptisch ein.  


In der Zeit, die es gebraucht hat, diese Geschichte in meinem Kopf zu rekonstruieren, sind wir am 25. Mai 2023 bis nach Bliestorf gefahren. Ein weiteres Dorf meiner Kindheit. Meine ersten Jahre als Torwart und Gartentrampoline verbinde ich damit. 


Mit 6 fühle ich mich am hinteren Dorfende, als hätte ich die Halbe Welt auf meinem großen Puky Bike umrundet und brauche dringend eine Pause. In meinem Fußballclub kehren wir ein und ich trinke eine große Apfelschorle. Dann glaube ich, dass es weitergehen kann. Zumindest bis ich den Kannenbruch vor mir sehe. Eine knapp drei Kilometer lange Gerade, die meiner Kinderseele den Rest gibt. Ich kapituliere. Kein Mensch der Welt kann so weit mit dem Fahrrad fahren. Ich kann ja nichtmal das Ende sehen! 


Die Stelle an der wir vor 20 Jahren umkehren - das hört sich sehr viel weiter weg an, als es sich anfühlt - erreichen wir heute nach 15 Minuten. - Ich lache über meine damalige Dramatik und wir biegen nach Krummesse ab. 


Auch wenn ich heute etwas mehr vorhabe, als damals, fühlt sich der Start in die Reise wie der Ausflug an. Weil mein Kopf noch keine Gelegenheit hatte meinen Körper einzuholen, weil alles um mich herum nach Heimat aussieht und weil ich mit Mama unterwegs bin. Zumindest die ersten drei Tage. Tage die uns durch Dassow, Klütz und Wismar führen - Backstein-Ruinen, mein erstes Dirtbike und Wonnemar. Und weiter gen Osten, entlang von Küstenabschnitten, deren Naturbelassenheit und Ruhe ich an der Ostsee niemals vermutet hätte. 


Inzwischen sitze ich am Strand auf Usedom, kuriere meine überanspruchte Archilles Sehne aus und höre dem Meeresrauschen zu.


Wie an der Ägäis rinnt mir weißer Sand durch die Finger, während ich auf die vergangenen fünf Tage zurückblicke und meinem Kopf endlich die Gelegenheit gebe meinen Körper einzuholen. Ich durchfliege meine Nächte in der Hängematte, die Sonnenuntergänge und -aufgänge, meine Erkundung des großen Moors bei Dänschenburg und die 400 km, die ich inzwischen schon wieder in Helges Sattel saß - langsam sickert durch, dass das hier meine letzte Station in Deutschland ist. Dass es morgen oder übermorgen weiter nach Polen geht und das wieder einmal zwei Monate voll Abenteuer vor mir liegen. 


Und obwohl ich mein Ziel auch heute nicht sehen kann, bin ich optimistisch es zu erreichen.


Denn zum Glück habe ich die Weitsicht gelernt, es fest vor Augen zu haben.




Achja… und vergessen hatte ich nur mich einzucremen. Eine weiß-rote Linie am Unterarm lässt grüßen. Ich denke an Sandwich Eis und Beachball…

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