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Zu Hause auf dem Weg

Auf dieser Reise bin ich schneller unterwegs als sonst. Mehr Strecke bedeutet nicht immer mehr Eindrücke - aber auch nicht weniger. Beim Radfahren kann ich sie zwar verarbeiten, doch um sie zu strukturieren brauche ich Zeit zum Schreiben. Zeit, die ich insbesondere an den Tagen habe, an denen ich kein Fahrrad fahre. Zum Beispiel während meiner Pause in Riga.

Warum mir diese Stadt sofort ans Herz gewachsen ist und wie der Weg hierher war, kannst du hier lesen. So viel Vorweg: Der Weg war steinig und Riga weckt vertraute Gefühle - auch wenn ich noch nie hier war und hier auch niemanden kannte.

Als ich in Gdynia aufbreche und Darias kurgleiche Gastfreundschaft verlasse, gehen mir vor allem zwei Dinge durch den Kopf. 


Zu kurz und zu lang.


Die Pause hier war zu kurz. Die nächste Etappe ist zu lang.


Ein Tag reicht nicht, um sich wirklich zu erholen und nebenbei 10 Jahre Freundschaft nachzuholen. Und 800km durch das Osteuropäische Hinterland zu fahren, klingt nach einer langen Zeit, die ich auf potenziell schlechten Straßen weit weg vom Meer verbringe. Kaliningrad versperrt die Küstenroute. Was mich motiviert den Weg anzutreten, ist Kamils Schwärmerei von den Mazuren. Und mein Wille, Riga als nächstes Etappenziel zu erreichen.


Wieder einmal weiß ich nicht genau, was mich an Riga so sehr reizt. Aber ich weiß genau, dass es die Stadt ist, in der ich länger bleiben will. Warum? Das finde ich schon noch raus.


Doch vorher stehen 800km osteuropäisches Hinterland mit potenziell schlechten Straßen auf der Karte.


Ihr Staub verklebt mir den Hals. 


Drecks auto-versessene Gesellschaft, rumple ich fluchend über litauische Schotterstraßen. Wie kann man Danzig und Klaipeda - zwei der bedeutendsten Hafenstädte des weiteren Baltikums - denn bitte nicht mit einer Fähre verbinden?! 600km „Landstraße“ statt 200km auf dem Boot? Das kann doch nicht unser Ernst sein… ich meine mit Schotterstraßen an sich habe ich ja kein Problem. Aber was ich hier erfahre… Helge schüttelt sich. Jeder der gut 10 Meter breiten Wege hat mehrere Spuren. Nicht Fahrbahnen, sondern Oberflächenstrukturen. 

Außen liegt lose grober Schotter. Konstantes Rütteln und Rutschen und ein gelegentlicher Schreckschuss, wenn Helges Gummisohlen einen der Steine gegen Schutzblech oder Rahmen schnippsen. Zwei mal wird auch scharf geschossen - aufs Schienbein. Rote Rinnsale färben sich schnell braun im grauen Staub.

Neben dem Grobkorn liegt der Feinstaub, der mir in der Lunge brennt. Schwarze Schlappen vergraben sich im Aschesand und stellen sich quer.

Innen dann die harte Oberfläche. Von doppelbereiften Treckermonstern so fest zerfurcht, dass neben Helge auch meine Zähne klappern. Das Profil der Landmaschinen scheint exakt darauf ausgerichtet zu sein, eine anti-radfahr-Frequenz zu erzeugen. 

Zwischen diesen drei Todesstreifen liegt jeweils ein Rasiermesser-scharfer Grat, gerade so erträglicher Schotterpiste. Insgesamt versuche ich mich 100km darauf entlangzuzirkeln. Es fühlt sich an wie 1000.


Etwa 400 weitere Kilometer verbringe ich auf Bundesstraßen. Wahlweise ausgestorben oder mit einem Verkehrsfluss der nach einem Autobahnausbau schreit.

Inzwischen hat es seit drei Wochen nicht geregnet und der Ostwind trägt weiteren Staub auf. Graues Land zieht an mir vorbei. Nicht dass hier nichts wächst - ich fahre ausschließlich durch von Wäldern unterbrochene Weizenfelder. Doch es hat schon einen Grund, dass ich mich über den gelegentlichen Regenguss freue. Graue Häuser, stille Siedlungen und tief-hängende Mundwinkel braun-gebrannter Menschen - eine Liebe wird das nicht zwischen mir und Litauen.


Dabei ist nicht alles schlecht. Meine Schlafplätze - noch in Polen - verbringe ich an ruhigen Badestellen spiegelglatter Seenplatten. Tigerente - Naturmomente - Schilfgesäumte Ufer und aufgeschlossene Menschen wecken sie doch - die Liebe für auch diesen Weg.


Und überraschenderweise schlafe ich selbst in Litauen in exquisiten Wasserlagen. Die Luft schmeckt wild am strandigen Ufer des Nemunas. Schwanformationen gleiten majestätisch der Abendsonne entgegen. Unter grünem Baldachin halbwilder Seen, pflechten Wasserschnecken im ewigen Tagewerk sandige Zöpfe auf den Grund. Einen ruhigen Schlafplatz finde ich allemal. Koche meinen Porridge, schreibe meine Texte und freue mich über kurze Nächte. Orange und roter Himmel liegen nurmehr vier Stunden auseinander. Doch guter Schlaf dank Hustensaft - der Staub fordert seinen Tribut - ermöglichen trotz frühem Licht, dass ich weit länger durch meine Träume wander. 


Irgendwo haben die kräftezehrenden Straßen dann also doch ihr gutes.


Ich freue mich trotzdem als ich über die lettische Grenze fahre und schließlich Riga in Sicht kommt. 


Erst beginnen die Radwege, dann die geschlossene Bebauung. Die Häuser werden größer und bunter. Dann die erste Ampel. Schließlich überquere ich die 500 Meter breite Düna auf einer der vier Brücken und bin in der Stadt. Zehn Minuten später rolle ich durch schmaler werdende Altstadtstraßen, komme vor einer Bücherbox zum stehen. Eine etwas heruntergekommen Holzfassade. Um die Ecke schimmert ein Stadtgarten. Menschen mit bunten Haaren. Eine glückselige Vertrautheit setzt ein: Das kenne ich doch - eine Hausbesetzung!


Wie es der Zufall will - die Intuition, die Love Attraction, das Schicksal oder wie auch immer man es nennen mag - stolpere ich über diesen Ort, der mir in Sekunden das Gefühl gibt, angekommen zu sein. 

Erdbeeren wachsen in Hochbeeten. Ein Pavillion aus wildem Wein überspannt die Bank auf der ich schreibe. Ruhig wummern Technobässe durch das alte Gemäuer. Ein sechs Meter langer Fuchs schmiegt sich daran. Kinderlachen und offene Herzen. Alle sind willkommen und werden mit einem Lächeln begrüßt, packen an und erwecken eine Oase zum Leben. Kollektive Freiheit.


Ja, es hat seinen Grund, warum ich diese Orte liebe. Lastadija heißt er in Riga. Und auch wenn ich hier nicht schlafen werde - Arturs lädt mich in seine Wohnung ein - ist es genau der Ort unaufgeregten Tumults, den ich brauche, um hier zur Ruhe zu kommen. 


Lagerfeuer - Urvertrauen - ich atme durch und sortiere die Eindrücke des ersten Drittels dieser Reise.


Die Stadt rauscht, Meer im Kopf - wo ich mich auf dem Weg zu Hause fühle, entdecke ich die Welt so oft, und mir ist’s Wert noch jede Mühe.

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Kommentare: 2
  • #1

    Mario Peh_punkt (Freitag, 16 Juni 2023 22:22)

    Moin Julius, meinen allerhöchstens Respekt an sich. Echt klasse. Jeden Tag verfolge ich deine Reise �
    Ich kann deine Zeilen sooooo gut nachvollziehen. Ich fahre selbst gerne Rad, stehe zwar grad am Anfang. Bin aber schon den halben Ostseetadwanderweg von Dänemark nach Greifswald gefahren. Man kann diese ganzen Eindrücke nicht beschreiben. Aber es ist genauso wie du es in den Zeilen schreibst.
    Ich wünsche Dir weiterhin eine gute Reise und immer genug Luft im Reifen �

  • #2

    Stephanie Oldehaver (Samstag, 17 Juni 2023 15:51)

    Ich lieb's�